24. Mai 2023

„Als Amazon noch Neckermann hieß“

Zweites Erzählcafé des Sulzbacher Geschichtsvereins im Gewölbekeller

Der Vorsitzende des Sulzbacher Geschichtsverein, Joachim Siebenhaar, berichtete beim zweiten Erzählcafé über die Geschichte das einst führende Versandhandelsunternehmen Neckermann. Foto: Schöffel

„Als Amazon noch Neckermann hieß“, so lautete der Vortrag, zu dem der Vorsitzende des Sulzbacher Geschichtsverein, Joachim Siebenhaar, jüngst in den Gewölbekeller des Frankfurter Hofs eingeladen hatte.

Über 30 interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer waren zum zweiten Erzählcafé Anfang Mai gekommen, um Wissenswertes bei einer spannenden Reise durch die „Zeit des Wirtschaftswunders“ zu erfahren. „Da das Unternehmen Neckermann seit 2012 nicht mehr existiert, handelt es sich nicht um eine Werbeveranstaltung“, betonte der Hobbyhistoriker zu Beginn seines Vortrags, den er mit Dokumenten, Katalogen, Fotos und Ausschnitten aus Werbefilmen ausschmückte.
Josef Carl Peter Neckermann wurde am 5. Juni 1912 als zweites Kind seiner Eltern Josef Carl und Julia Neckermann, geborene Lang, in Würzburg geboren. Sein Vater gründete 1895 eine Kohlenhandlung mit 80 Mitarbeitern, belieferte Großkunden wie die Reichsbahn und erwirtschaftete ein Vermögen.
Der junge Josef besuchte das Realgymnasium, war aber Außenseiter in der Klasse. Der Grund: Er besaß eine Ziege mit Wägelchen und erledigte damit die Einkäufe seiner Großmutter. Deshalb wollte keiner neben dem „Ziegenstinker“ sitzen. Die Schule stand für ihn an zweiter Stelle, seine ganze Leidenschaft gehörte dem Reiten.
Als 1928 sein Vater starb, verließ er das Gymnasium und absolvierte ab 1929 eine dreijährige Lehre bei der „Bayrischen Hypothekenbank“ in Würzburg. Es folgten Praktika in Stettin, Newcastle und Lüttich sowie Mitarbeit im elterlichen Betrieb. 1934 heiratete Josef seine Jugendliebe Annemie, trat 1937 der NSDAP bei und übergab die Kohlenhandlung an seinen Bruder Walter.
Mit der Auszahlung von 200.000 Reichsmark erwarb er ein jüdisches Textilkaufhaus, ein Niedrigpreisgeschäft, das Textilfachgeschäft „Vetter“ sowie Anfang 1938 das „arisierte“ Versandgeschäft „Wäschemanufaktur Carl Joel“, sogleich umbenannt in „Wäsche- und Kleiderfabrik Josef Neckermann“. Nach „Witt“ in Weiden, „Quelle“ in Nürnberg und „Schöpflin“ in Hagen besaß Neckermann das viertgrößte Versandhaus im Deutschen Reich. Der Jahresumsatz betrug 30 Millionen Reichsmark.
Ende 1939 gründete er mit einem Hertie-Geschäftführer die „Zentrallagergemeinschaft Bekleidung“. Er machte Karriere als Leiter der „Reichsstelle Kleidung“ und stellte im April 1942 Hitler seine Winteruniformen vor. Für seine Verdienste erhielt er ein Kriegskreuz Erster Klasse. Beim Bombenangriff im Dezember 1943 über Berlin wurde seine Villa zerstört. Daraufhin zog Annemie mit Kindern an den Tegernsee. Josef blieb, kam im März 1945 nach und wurde Ende Mai beim Bayrischen Wirtschaftsministerium angestellt. Deshalb zog die Familie nach Gräfelfing bei München.
Aufgrund einer tödlichen Familientragödie, bei der im Januar 1948 seine Schwester, sein Schwager und dessen ältester Sohn wegen einer Panne auf der Autobahn von einem US-Militärlaster überrollt wurden, zog die Großfamilie Neckermann nach Oberursel. Er gründete im September 1948 die „Textilgesellschaft Neckermann KG“ mit Sitz in der Frankfurter Mainzer Straße. Das Lagerhaus stand in Kelsterbach. Die zwölfseitige Preisliste war ab März 1950 mit der Auflage von 100.000 Stück gültig und umfasste erst 133 Textilartkel.
Der Versandhandel blühte. Ein neues Versandhaus mit 6.500 Quadratmeter Verkausfsfläche entstand am Danziger Platz. Der damalige Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb hielt die Eröffnungsrede. Per Lochkarten wurden im „Hollerith-Saal“ für jeden Artikel die Zahl der Bestellungen ermittelt. In Verpackstationen glitten die Pakete über eine Rutsche in Neckermanns eigenes Postamt.
Unternehmer Neckermann hatte ein Faible für knapp kalkulierte Preise, ganz zum Ärger anderer Mittel- und Großbetriebe. Zu Beginn des Fernsehzeitalters konnte auch Neckermann kein günstiges TV-Gerät anbieten. Dafür aber günstige Radiogeräte, die bei der Übertragung der Fußball-WM 1954 in der Schweiz ausverkauft waren.
Der Versandhandel boomte weiter. Nach amerikanischem Vorbild wollte man „Universalversender“ werden. Kleinmöbel zum Zusammenbauen kamen ins Angebot, Elektrogeräte aller Art vom Bügeleisen über Fernseher bis hin zur Waschmaschine. Die Zahl der Kataloge wuchs, ebenso die Zahl der Kundenadressen auf fast zwei Millionen. Zum Versand kamen noch „Verkaufsstellen“ hinzu.
1956 war der Katalog schon auf 316 Seiten mit 3.800 Artikeln angewachsen. Im Unternehmen arbeiteten insgesamt 6.000 Menschen, davon ein Großteil in Frankfurt. Nach einem verlorenen Slogan-Streit vor Gericht über „Besser dran mit Neckermann“, musste der penible Firmen-Patriarch einen neuen Werbespruch finden. Den kreierte ein junger Kundenkontakter mit „Neckermann macht´s möglich“. Ein Solgan, der um die Welt ging.
1963 ging Neckermann an die Börse, gründete „Neckermanns Reisen“. Flüge nach Ägypten und in den Libanon buchten im ersten Jahr 18.000 Deutsche. Mallorca-Trips brummten: 15 Tage Vollpension ab 475 Mark. Neu im Angebot waren Campingbedarf, Fotozubehör, Eigenheime. Mit Mofas zu Dumpingpreisen wollte das Unternehmen in den deutschen Kleinkraftradmarkt eindringen. Allerdings ohne Erfolg.
Zum 25-jährigen Firmenjubliläum 1975 reduzierte man die Preise aller Artikel des Frühjahr/Sommerkatalogs um zehn Prozent. Der Käuferansturm auf die ohnehin knapp kalkulierten Preise brachte jedoch das wirtschaftliche Aus. Trotz hoher Umsätze schrieb das Unternehmen rote Zahlen. 1977 ging der Firmen-Besitz in die Karstadt AG über. Der Firmeninhaber verlor dabei fast sein gesamtes Vermögen.
Nun konnte sich Josef Neckermann seinem zweiten Lebenswerk, der „Deutschen Sporthilfe“ widmen und war ein fleißiger Spendensammler. Bis zu seinem Rückzug 1988 wurden von der Stiftung insgesamt 18.000 Athleten mit 230 Millionen Deutschen Mark gefördert. Sein gesellschaftliches Engagement brachte ihm zahlreiche Ehrungen ein. Am 13.Januar 1992 starb der Kettenraucher Josef Carl Peter Neckermann im Alter von 79 Jahren in seinem Haus in Dreieich an Lungenkrebs. gs

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